„Mit der Theologie kommt der Materialismus da überein, wo er am materialistischsten ist. Seine Sehnsucht wäre die Auferstehung des Fleisches; dem Idealismus, dem Reich des absoluten Geistes, wäre sie ganz fremd.
Fluchtpunkt des historischen Materialismus wäre seine eigene
Aufhebung, die Befreiung des Geistes vom Primat der materiellen Bedürfnisse im
Stand ihrer Erfüllung.“ (Theodor W. Adorno).
Wer sich als Frau an die Philosophie wagt, kann einiges
erleben. Als bei mir – in den Jahren nach der Dissertation – die Einschläge dichter
wurden, habe ich mir mal einen Scherz erlaubt und das eben zitierte berühmte
und 'in meinen Kreisen' allgemeine Andacht auslösende Zitat ein wenig entfremdet.
Ich wollte es mit gewissen – heute wieder hochakuten – Schmäherfahrungen
zusammen bringen und die Zumutungen männlicher Projektionen auf eine Weise
bloßlegen, die niemanden schmähte, sondern Bildwelten, „Names-calling“,
Erfahrungen und Entfremdungen aufeinander krachen ließ.
Das unveröffentlichte kleine Büchelchen, das daraus
entstand, ist mir vor ein paar Jahren abhanden gekommen, in irgendeiner
Umzugskiste versackt oder geklaut worden von irgendwem, dem ich mal
freundlicherweise meine Bude überlassen hatte, während ich unterwegs war – so
etwas habe ich nämlich früher oft und gern gemacht, also die Wohnung überlassen. Es hatte die Größe einer
CD-Hülle, hieß „Das Wahrheitsspiel“ und enthielt außer einer etwas holperig
geschriebenen pseudopornografischen Geschichte von einer Mewan und einem Mymon
ein paar ganz hübsche, allenfalls soft- oder, wie ich in dem Büchlein (das
einem Mann der Postmoderne zugedacht war, den ich damals liebte) schrieb,
„vorpornographische“, ziemlich professionell und übrigens in angenehm kühler
Arbeitsatmosphäre aufgenommene Fotos von meinem damals noch ganz ansehnlichen
Leibe. Das Beste an dem ganzen Stücklein war aber – so jedenfalls erscheint es
mir heute und aus der Erinnerung – der Anfang des Textes, denn der enthielt in
der Form eines entfremdeten Adorno-Zitates einen wirklichen Gedanken (und nun
muss ich mich wegen der Abwesenheit des Büchleins selbst aus dem Gedächtnis
zitieren):
„Mit der Askese kommt die Sinnlichkeit da zusammen, wo sie
am aller verruchtesten erscheint; ihren Höhepunkt erreichen beide in der
Prostitution. Die Prostituierte bedient ihren Kunden dann am besten, wenn sie
dem Kunden einen Orgasmus verschafft, indem sie ihren eigenen Orgasmus
fingiert. Anders als immer gesagt wird, anders auch, als es die nach Berichten
von Prostituierten regelmäßig von Freiern gestellte Frage, „ob es ihr gekommen
sei“, suggeriert, kommt alles in diesem Geschäft darauf an, dass die
Prostituierte nicht nur unbefriedigt bleibt, sondern auch keinerlei Freude an
der Sache hat, diese aber kompetent vorgaukelt. Denn nur so kann sich der
Freier bei ihr von dem entlasten, was er sich im Berufsleben selbst unentwegt
zumutet: Askese. Im Besuch bei der Prostituierten gibt insbesondere der gut
gestellte Geschäftsmann, der biedere Beamte, der Politiker, das
spätkapitalistische und gesinnungsethische Spiel, bei dem Geld gezahlt wird für
eine Leistung, die gegen die eigene Lust erbracht wird, aber mit allen
Anzeichen vollständiger Identifizierung aufgeführt werden soll, an jemand
anderen weiter. Sie soll sich eine halbe Stunde oder länger ihm gegenüber so
betragen wie er gegenüber der gesellschaftlichen Maschine, die er bedient. Nach
dieser Umkehrung ist er vermutlich süchtiger als nach dem eigentlich sinnlichen
Akt oder irgendeiner Liebe. Und eben darum kann er diese Sucht auch so gut vor
sich selbst geheimhalten und im Brustton der Überzeugung die Prostituierte und
die Halbwelt, in der sie zu leben hat, verwerfen. Denn mit dem Akt des Zahlens
identifiziert er sich nach getaner Tat sogleich wieder mit der von ihm für eine
halbe Stunde suspendierten Askese – zwischen Büroschluss und Heimkehr in den
Schoß der Familie hat er sich durch die Begegnung mit der Prostituierten für
die bürgerlichen Freuden, die daheim auf ihn warten, gereinigt, und wenn seine
Gattin ihm von ihrem Engagement gegen die Zwangsprostitution berichtet, wird er
förderlich und ermunternd lächeln und sich heimlich freuen oder schämen.
Vielleicht wird er auch in ihr besorgtes Reden maßvoll einstimmen und sich
vornehmen, diese im übrigen ja auch ins Geld gehende Schleuse zukünftig zu
meiden. Bis zum nächsten Mal.“
Vermutlich habe ich den Gedanken damals etwas kürzer gefasst
und die Geschichten etwas länger, aber darum ging es. Und also auch um Adornos
eigene Praxis, übrigens. Für mich war es durchaus ein hoffnungsvolles Büchlein
– ich war verliebt in einen Mann, dem ich ausreichend Verstand zutraute, und ich
schrieb es in einem Augenblick, in dem so etwas wie „die Befreiung des Geistes
vom Primat der materiellen Bedürfnisse im Stand ihrer Erfüllung“ gelegentlich
real zu sein schien.
Was sonst hinzu kam? Das spielt fast keine Rolle mehr. Es
war mehr so eine dieser Summen aus der weiblichen Erfahrung mit dem, was Freud
„die allgemeinste Verachtung des Liebeslebens“ nannte. Wie gesagt, vermutlich
holperig geschrieben, und übrigens so, dass es auch seinen privaten Zweck
vollständig verfehlte. Heute finde ich es trotzdem manchmal schade, dass ich
das Büchlein nicht mehr habe. Ich würde es vielleicht überarbeiten und doch
noch veröffentlichen wollen, mit oder ohne Bilder –irgendwann ist auch das
egal. Immerhin habe ich von anderen Texten ein bisschen Erfahrung mit biographistischen
Missverständnissen literarischer Texte. Nu.
Aber Adorno ist schon gut, oder? Und falls irgendwem das
Stückchen über den Weg läuft, gar noch mit der gewhistleten „Information“, dass
sich darin eine eingebildete Intellektuelle als Edelnutte oute oder dergleichen
(ich kann mir mittlerweile alles vorstellen) – ich würde mich freuen, es wieder
zu bekommen, gern mit ordentlicher Aufklärung über die Wege, die es genommen.
Vielleicht finde ich es ja diesen Sommer unversehrt im Keller.